ARTIKEL
DER BEGRIFF DES “MAKAM” IN DER OSMANISCH - TÜRKISCHEN MUSIK
( by Bülent Aksoy )
Wie es bei allen traditionellen Musikarten, die auf Makam (Maqam) basieren , der Fall ist, stellt der Maqam den wichtigsten Bestandteil der osmanischen Musik dar.
In der Maqam-Musik befindet sich der Usûl (rhythmisches Muster) an zweiter Stelle.
Eine Melodie kann , ohne an einen bestimmten Usûl gebunden zu sein, in einem freien rhythmischen Muster die Anforderungen eines bestimmten Maqam erfüllen.
Auf diese Art und Weise nehmen frei rhythmische Musikstücke (ohne Usûl) im Archiv der osmanischen Musik einen wichtigen Platz ein.
Der Begriff des Maqam kann nicht mit einer einfachen Erklaerung definiert werden. Insbesondere in der osmanischen Musik stellt das Wort Maqam ein schwer zu verstehendes Konzept dar. Dieser Umstand kann mit der Vielfalt und Variabilitaet der in der Struktur des Maqam befindlichen Elemente begründet werden. Um überhaupt zu verstehen, was Maqam bedeutet, sollte man dessen theoretische Definition und praktische Anwendung voneinander trennen. Zwischen den in den Büchern zu lesenden Definitionen dieses Begriffs und dessen Anwendungsformen können mehrere Unterschiede vorhanden sein. Zwar traegt jede theoretische Definition auch eine bestimmte Verallgemeinerung oder Begrenzung in sich ; darüber hinaus ist es aber möglich, dass die Unterschiede in der Anwendung / Darbietung von der Theorie noch nicht bemerkt und folglich nicht in die Definition aufgenommen worden sind.
Somit stellt in der Maqam-Musik die theoretische Basis einen ersten Rahmen dar, der lediglich allgemeine Informationen über Maqam vermittelt. Dies ist als Ausganspunkt wichtig. Ihre eigentliche Identitaet zeigt die Maqam-Musik jedoch in der Anwendung und stellt somit eine Musikart dar, die in erster Linie in der Phase der Komposition und Darbietung zur Geltung kommt.
Der Maqam wird theoretisch zuerst mit einem “Tonleiter“ , d.h. mit den Grundtönen , die den betreffenden Maqam entstehen lassen, definiert. In der Praxis bewegt man sich jedoch mehrmals ausserhalb des entsprechenden Tonbereichs ; die Ausweitung des Tonbereichs in Richtung der tieferen und höheren Töne kann als zu diesem Tonbereich gehörig aufgefasst werden. Obwohl es gesagt werden kann, dass die Maqam bei Ausweitungen des Tonbereichs zu den tieferen und höheren Tönen die gleichen Töne verwenden, ist es eine Realitaet, dass ein bestimmter Maqam mehr als eine Ausweitungsform aufweisen kann. Aus diesem Grund sind die Ausweitungen bei den Tönen nicht immer symmetrisch ; mit anderen Worten , die Töne in der ersten Oktave treffen nicht immer die Töne in der zweiten Oktave. Dieser Umstand sollte als eine Eigenschaft der Maqam-Musik betrachtet werden und bedeutet, dass die anfaengliche Tonreihe zerstört wurde.
Seyir (Melodiegang)
Die Tonreihe stellt in der Maqam-Musik lediglich das Skelett dar. Dieses Skelett wird erst mit einem melodischen Rundgang (Seyir) lebendig. Waehrend mehrere Maqam die gleichen Tonreihen aufweisen, können diese durch die Eigenschaften des melodischen Rundgangs voneinander unterschieden werden. Der melodische Rundgang zeigt uns wie die einzelnen Töne in der betreffenden Tonreihe verwendet werden. Bei den Informationen über die Anfangstöne eines Maqam, die Abschlusstonhöhe, halbe Abschlusstonhöhe , die Art der Bewegung zwischen dem Anfangston und der halben Abschlusstonhöhe , die Art der Bewegung zwischen der halben Abschlusstonhöhe und der Abschlusstonhöhe, die Verwendungsfrequenz der einzelnen Töne, Verwendungsverbot für einzelne Töne, die Art der Bewegungen nach oben und unten oder gleichzeitig in beide Richtungen handelt es sich um allgemeine Auskünfte über den melodischen Rundgang. Der melodische Rundgang erfordert aber auch das Vorhandensein von Detailinformationen , die ihr die anderen Eigenschaften verleihen. Diese sind z.B. die wichtigen Töne des Maqam insbesondere die unvollstaendigen Abschlusstonhöhen ,die Tiefen und Höhen bei Tönen bei Auf- und Abstiegen in halben Intervallen, die Nuanceunterschiede bei unvollstaendigen Tonhöhen und bei manchen Transpositionen, asymmetrische Ausweitungen, Darbietungsformen bei speziellen Tonarten und die Transposition von vierer und fünfer Intervallen im Aufbau eines Maqam in verschiedene Tonhöhen. Bei zusammengesetzten Maqam, die aus zwei oder mehreren Tonarten oder deren Abaenderungen bestehen, treten diese Eigenschaften des melodischen Rundgangs in grösserer Verwechslung auf.
Die Begriffe “Geçki“ (Modulation) und “Çeşni“ (Alteration)
Neben dem Ausdruck “Seyir“ müssen auch die Begriffe Geçki (Modulation) und Çeşni (Alteration) erwaehnt werden. Da manche Modulationen seit langer Zeit gebraucht werden, sind sie zur Gewohnheit geworden. Obwohl diese Modulationen sich nicht in der ursprünglichen Struktur desjenigen Maqam befinden, können sie nicht gaenzlich ausserhalb dieses Maqam gehalten werden denn sie sind die Modulationen, die dieser Maqam besonders gerne hat und diese auch beliebt gemacht hat. Bei Çeşni handelt es sich um einen Begriff der türkischen Musik in der Bedeutung der Abaenderung . Bei Çeşni erhaelt man Modulationen durch die von anderen Maqam geliehenen Fünfer- , Vierer- oder manchmal Dreiertonreihen oder mit neuen “Arten“. Manche Alterationen sind eine Voraussetzung des Aufbaus des betreffenden Maqam , manche sind durch Benutzung über mehrere hundert Jahre zu einem untrennbaren Bestandteil des jeweiligen Maqam geworden. Solche Alterationen verleihen einem bestimmten Maqam nicht nur seine Besonderheit und Farbe , sie sorgen auch dafür , dass dieser Maqam von einem aehnlichen Maqam leicht unterschieden wird. Zum Beispiel werden bei der Tonart bayatî vor dem Abschluss auf der Tonhöhe nevâ die Alteration in der Tonart des Maqam hicaz und auf der Tonhöhe çargâh die Alteration in der Tonart des Maqam nikriz dargeboten. Diese typischen Alterationen dienen dazu, die Tonart Bayati von der Tonart Uşşak zu unterscheiden. Durch die im Laufe der Zeit in den eigentlichen Aufbau eines Maqam aufgenommenen Alterationen können die Tonreihen dieses Maqam auch mit neuen Tonreihen ergaenzt werden.
Die Maqam können auch kleinere Tonreihen als die Dreiertonreihe ausgeliehen bekommen. Abweichungen , die dem betreffendem Maqam nicht eigen sind aber auch nicht als Modulation eingestuft werden können und sich mit einem einzigen Ton bemerkbar machen oder kleine Verzierungen bilden eine weitere Besonderheit bei den Maqam. Wir treffen diesen kleinen Abweichungen und Verzierungen , die nicht zu Modulationen zaehlen, in mehreren Werken , wobei zu erwaehnen ist , dass es sich hierbei um ein nicht ausreichend erforschtes Thema handelt.
Hierbei muss auch bemerkt werden, dass es unterschiedliche Elemente gibt, die in der Maqam-Musik angewandt werden jedoch bis heute nicht in der Theorie klassifiziert werden konnten.
Die geschichtliche Dimension des Makam
Der Maqam hat auch eine historische Dimension. Bei den heute in der türkischen Musik verwendeten Maqam - Formen handelt es sich im Allgemeinen um die etablierten Formen aus dem XIX.Jahrhundert. In früheren Jahrhunderten jedoch hatten manche Maqam Namensaenderungen erfahren und manche wurden unter dem gleichen Namen in einer anderen Form dargeboten als heute. Selbst die am meisten etablierten Maqam sind Produkte eines bestimmten Aenderungs- und Entwicklungsprozesses. Innerhalb der langen Historie eines Maqam kann es sein , dass dessen Melodiegang, Alterationen und sogar Tonreihen sich geaendert haben. Die im XVII. Jahrhundert geschriebenen Werke von Ali Ufkî und Kantemiroğlu bezeugen diesen Umstand. Diese historische Dimension sollte bei der Definition der Maqam nicht ausser Acht gelassen werden. Wenn wir diesen Faktor berücksichtigen,
wird es leicht verstaendlich, dass der Maqam nicht ein statisches sondern ein dynamisches Wesen ist. Selbst der Maqam Kürdülihicazkâr , der Mitte des XIX. Jahrhunderts entstanden , also neu ist, hat in einer Periode von hundert Jahren im Vergleich zu seiner ursprünglichen Form Aenderungen erfahren und somit komplexer geworden. Die mehrfache Verwendungsform ist eine Bestaetigung dieser Entwicklung.
Eine gründliche Erforschung der Geschichte der Maqam-Musik ist erforderlich , nicht nur um die Maqam besser zu verstehen sondern auch die Entwicklung der osmanisch-türkischen Musik besser verfolgen zu können. Die Maqam, die im XVII. Jahrhundert eine einfachere Form aufgewiesen haben, wurden ab Mitte des XVIII. Jahrhunderts mit neuen Alterationen , Melodiegaengen und Tonreihen bereichert. Diese Anwendungen sollten als neue Beitraege der nachkommenden Generation zu den alten Formen angesehen werden. Die klaren Unterschiede zwischen den Werken , die vor 300 Jahren komponiert wurden und denen aus den Anfaengen des XX.Jahrhunderts machen sichtbar, dass die “einfache“ Maqam-Struktur “ über die Jahre komplexer und komplexer wurde. Die Komponisten des osmanischen Reiches
haben die Darbietungsformen der Maqam-Musik zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht , wobei sie vielmehr die unberührten Seiten der Darbietungsformen erforscht hatten . Ihre Kreativitaet konzentrierten sie auf die Bearbeitungsformen des Maqam. Die Untersuchungen der neueren Zeit haben dazu beigetragen, in die osmanische Musik neue Maqam einzuführen.
Die Maqam können auch regionale Anwendungsformen aufweisen. Die Maqam-Musik ist innerhalb ihrer geographischen Grenzen eine internationale / interkulturelle Disziplin über den regionalen Traditionen. Dieser Umstand hat jedoch das Entstehen der regionalen und lokalen Anwendungsformen nicht verhindern können. Trotz gleicher theoretischer Definition begegnet man in verschiedenen Regionen unterschiedlichen Anwendungsformen. Je nach lokaler Anwendungsform können die Maqam Unterschiede in Intervallen, Melodiegang und Alterationsformen aufweisen.
Maqam in gesammelten Werken der Musik
Der Aufbau eines Maqam kann mit Noten aufgezeigt werden aber bei der Komposition und Darbietung faellt auf, dass in den Rahmen des Maqam mehrere zusaetzliche Elemente einfliessen, die wegen ihrer Vielfalt und Variabilitaet nicht in Schriftform ausgedrückt werden können. Abschliessend muss also gesagt werden, dass die eigentliche Identitaet der Maqamat nicht mit generellen Informationen theoretischer Art sondern mit deren Bearbeitungsform in den gesammelten musikalischen Werken erklaert und erlaeutert werden kann.
In den im XX.Jahrhundert angefangenen Arbeiten musikologischer Natur in der türkischen Musik wurde dem “Tonsystem“ der Vorrang gegeben. Aus diesem Grund wurde der Begriff des Maqam vielmals innerhalb der Grenzen der vorgesehenen Tonsysteme untersucht, wobei die mit dem vorgesehenen Tonsystem nicht erklaerbaren Seiten eines Maqam automatisch ausserhalb des Untersuchungsbereichs geblieben sind. Deswegen konnten bis heute nicht alle Seiten der Maqam aufgehellt werden. Was getan werden muss, ist nicht die Erklaerung der Maqam ausgehend vom Tonsystem vorzunehmen sondern im Gegenteil ausgehend von der Anwendung der Maqam einen flexibleren Begriff für das Tonsystem zu erhalten ; d.h. die Theorie der Praxis zu naehern und mit ihr zu vereinigen.
QUELLENVERZEICHNIS
Abdülbâki Nâsır Dede 1794. Tedkik-ü Tahkik (Untersuchungen und Ermittlungen),
Süleymaniye Verlag, Handschriftliche Werke von Nafiz Paşa, 1242/1.
Arel, Hüseyin Sadettin 1993. Türk Musıkisi Nazariyatı Dersleri (Lektionen über die Theorie der Türkischen Musik), Istanbul, Veröffentlichung des Türkischen Kultusministeriums.
Cantemir, Dimitrie (etwa 1700). Kitab-ı İlmü’l Mûsıkî ’ alâ Vech’il-Hurûfât, Universitaet Istanbul, Turkologisches Institut, Veröffentlichungsnummer. Nr. 2768.
Ezgi, Suphi 1933-1953. Nazarî-Ameli Türk Musıkisi (Türkische Musik in Theorie und Praxis), Veröffentlichung des Konservatoriums Istanbul.
Gürmeriç, Şefik (60’er Jahre). Türk Musıkisi Nazariyatı Notları (Makamlar) (Notizen über die Theorie der türkischen Musik , Maqamat), nicht veröffentlichte Unterrichtsnotizen für die Theorie-Klassen des Konservatoriums der Stadtverwaltung Istanbul.
İlerici, Kemal 1984. Bestecilik Bakımından Türk Müziği ve Armonisi (Türkische Musik und deren Harmonie aus der Sicht des Komponisten), Istanbul, Veröffentlichung des Türkischen Kultusministeriums.
Karadeniz, Ekrem 1984. Türk Musıkisinin Nazariye ve Esasları (Theorie und Grundsaetze der Türkischen Musik), Istanbul, Veröffentlichung der İş Bankası.
Özkan, İsmail Hakkı 1984. Türk Musıkisi Nazariyatı ve Usûlleri (Theorie der Türkischen Musik und Formen), Istanbul, Ötüken Verlag.
Öztuna, Yılmaz 1990. Büyük Türk Musıkisi Ansiklopedisi I-II (Grosse Enzyklopaedie der Türkischen Musik I-II), Ankara, Veröffentlichung des Türkischen Kultusministeriums.
Rauf, Yekta 1986. Türk Musıkisi (Türkische Musik), übersetzt von Orhan Nasuhioğlu, Istanbul, Pan Verlag.
Signell, L. Karl 1977. Makam: Modal Practice in Turkish Art Musik, Seattle, Asian Music Publications.